Mut zur Lücke

Hätte frau/man so viele Zahnreihen, wie in der Installation von Ai Weiwei ( Gropius Bau Berlin, 2016 ) im Laufe eines Lebens zu Verfügung…das Leben wäre leichter …

Nie hätte ich gedacht, das ich in der Lage sein werde, über dieses Thema zu schreiben. Auch noch öffentlich darüber zu schreiben.
Monatelang war ich noch nicht einmal in Lage, mit meinen engsten Liebsten darüber zu sprechen.
Gäbe eine Themensperre, sowie es eine Persona non grata gibt – dies war mein persönliches Tabuthema
Nun, wo sich diese Geschichte jährt, und wie so vieles, über das wir in der Vorweihnachtszeit nachdenken, Schickalsschläge, glückliche Momente, zukunftsverändernde Neuigkeiten, so gehört diese Begebenheit irgendwie doch definitiv in mein Storyboard 2018/2019.

Samstag, der 29.12.2018.
Mein Termin beim Friseur, von langer Hand geplant, da wir mit lieben Freunden Silvester feiern wollten, und ich mir ein „ich hab die Haare schön Moment“ für diesen Abend vorstellte.
Samstag deswegen, da Montag ja bekanntermaßen, die Friseure in dieser Stadt weitestgehend geschlossen haben.
Well done, und frisch gestylt, nebst allerbester Laune, griff ich mit einem strahlenden Lächeln, sowie mit einem Scherz auf den Lippen, zu meinem Mantel an der Garderobe.
Dieser hing irgendwie unwillig, und statt des Mantels in meinen Händen, hatte ich plötzlich den Kleiderbügel aus Metall in meinem Gesicht, um genau zu sein, prallte dieser mit ziemlicher Wucht auf meine Lippen.

Das war jetzt hoffentlich nicht schlimm, dachte ich noch so bei mir, und verließ unter mittelmäßigen Schmerzen, gepaart mit einem etwas gequälterem Lächeln, den Salon.
Den Gedanken an eine Verletzung, oder Schlimmeres, schob ich gekonnt zur Seite – so was kann ich gut. Ziemlich gut sogar.
Tage später, bereits in 2019 angekommen, musste ich mir eingestehen, dass dieser diffuse Schmerz ein treuer Begleiter an meiner Seite geworden war, und definitiv nicht gehen wollte.
Ein Anruf bei meinem Zahnarzt, einer meiner liebsten und ältesten Freunde, ergab nicht viel Neues…abwarten, vielleicht ist der Zahn traumatisiert, oder vorbeikommen, röntgen.
Da in meiner Wahrnehmung mein Zahn traumatisiert sein MUSSTE, hielt ich abwarten für die probate Antwort.
Eine Variante dieser Diagnose gab es für mich nicht & durfte es nicht geben – es war mein – Schneidezahn.
Prominent, frontal, mitten in meinem Gesicht.
Was dann die nächsten drei Monate folgte ist im Nachhinein ( für mich ) das Grauen gewesen.
Jetzt, mit genügend Abstand, und der Gelassenheit, die Dinge so hinzunehmen, wie sind, sowie die Gewissheit, das es viel, viel, viel Schlimmeres gibt, ist da kein Grauen mehr. Selbstverständlich nicht.

Der Zahn war tot,
tot war der Gute bereits seit einer langen Weile, passiert infolge eines Fahrradunfalls als Kind, zumindest seitdem angebrochen…er hatte es sich jedoch mummelig eingerichtet in seiner Höhle – bis zu dem Tag des Bügels.
Drei Monate lang hatte ich ununterbrochen Schmerzen, konnte nicht richtig essen, ließ niemanden auch nur in Nähe des Schmerzmittelpunktes & entwarf mit meinem Freund, dem Zahnarzt, immer neue Variationen, wie wir vor gehen könnten. Dann kam das Frühjahr, zwischendurch hatte ich ich weitestgehend normal weitergelebt, gearbeitet, geheiratet, nie schmerzfrei.
Bis ich mit einer Bekannten darüber sprach, die bei einem Kieferchirurgen tätig ist, Ihr Kommentar : sofort ein Termin bei ihrem Chef. Beschleunigung vom Feinsten.
Eine Woche später hatte ich die Diagnose, nebst einem schönen radiologischem Foto meines Gebisses – der Zahn ist komplett gebrochen, und muss raus. Und dies am besten heute.
Es folgte tagelanges weinen, hadern, zweifeln, ignorieren…die komplette Bandbreite einer eitlen Frau, die, im wahrsten Sinne des Wortes, ihr Gesicht nicht verlieren wollte.
Im Nachhinein glaube ich, keiner meiner Lieben hat mich jemals in einer so desolaten Verfassung erlebt.

Termin für das Ziehen des Zahnes gleich einen Tag nach meinem Geburtstag.

Es war einer der fragwürdigsten Geburtstage meines Lebens, sowie rückblickend einer der denkwürdigsten meines Lebens. Ein lustiger Start im Kreise meiner Freundinnen, ein ruhiger Abend zu Zweit, dies alles unter dem Damokles Schwert, morgen bin ich um einen Zahn ärmer. Um einen wichtigen Zahn.
Im Nachhinein denke ich noch immer, wäre es ein Backenzahn gewesen..so what.
War es jedoch nicht.
Nun ist mein treuer Begleiter seit März nur noch ein temporärer Begleiter, da mein Lieblingszahnarzt ihn immer wieder in die Lücke hineinklebt, sobald eine weitere Behandlung abgeschlossen ist. Ewiger, aufrichtiger Dank ist ihm sicher!
Aktuell stehe ich vor der Freilegung des Implantates. Man könnte auch sagen, es geht voran.
Im August dieses Jahres war der Implantationstermin. Am selben Tag hatte der Zahnarzt meines Vertrauens Geburtstag. Wir waren uns einig, dass wir uns vermutlich an diesem Abend nicht sehen würden.
Die OP verlief reibungslos, einziges Problem, die Schiene, meine Prothese ( ich liebe dieses Wort), hielt nicht in der erneuten Lücke.
Okay.
Schockiert, das ich ohne einen Lückenfüller die Praxis verlassen musste, wurde ich mit diversen Mundschutzvarianten ausgestattet, und fuhr nach Hause.
Kein Mensch, weder mein Mann, noch meine Kinder, noch sonst wer ( ausser meine beloved Ärzte & their teams ) hatten mich bisher ohne Prothese, geschweige denn ohne Frontzahn gesehen. Seit 6 Monaten.
Das Lachen war mir in dieser Zeit weitestgehend eh vergangen, da es gepaart war, mit einer sich nicht auflösenden Unsicherheit…sieht mein Gegenüber, was da los ist, ist es sehr entstellend? Ich war in der Öffentlichkeit komplett verunsichert, mochte mich derselben am liebsten gar nicht mehr stellen.

Kurioser Weise hatte ich an diesem Tag fast zeitgleich meine beiden Kinder am Start, die Eine via skype, den Anderen zu Besuch. Keiner von Ihnen fand es befremdlich Ihre Mutter mit einer solchen Lücke im Mund zu sehen, im Gegenteil, O-Ton mein Sohn : solltest Du so lassen, cooler Style.
Ach neee, lass mal, danke, Schatz.
Dann kam mein Liebster. Tiefentspannt, wie immer war seine einzige Bemerkung, so etwas in der Art wie, Liebste, für mich bist Du immer schön.
Oha, dachte ich, und verbrachte den Nachmittag mit dem Pendeln zwischen Spiegel und Terrasse. Versuchte herauszufinden, wie ich mich fand.
Etwas später am Abend, die anstehende Geburtstagsparty hatte ich ja nun nicht vergessen, versuchte ich mich noch einmal unverdrossen an die Prothesenkompatibilität…no way…Passform gleich null.
Dann betrachtete ich mich, einmal umso mehr, ausgiebig im Spiegel, schminkte mir die Lippen rot & verkündigte der geneigten family…wie können los!
Irrierte Gesichter, ein „bist Du sicher?“
Ja.
Ab diesem Moment, und das hätte ich mir selber nicht träumen lassen, befand sich die gesamte negative Bewertung dieser Geschichte, in einem positiven Flow. Keiner der Partygäste fand mich komisch, vielleicht hässlich/hexisch, jedoch eher Pippi Langstrumpfmässig, und waren voll des Respektes dafür, dass ich da war. Mich getraut hatte. Um einen Zahn ärmer, und dies ziemlich offensichtlich.
Seit diesem Abend weiß ich auch, dass es so viele Menschen gibt, die Probleme mit Ihren Zähnen haben, Lücken, usw.
Seit diesem Abend spreche ich darüber.
Ungefragt.
Kläre auf, erkläre mich, und habe, einmal umso mehr, ein Stück zu mir gefunden. Zu mehr Wahrheit mir selber gegenüber. Und Klarheit darüber, das ein fehlender Schneidezahn nicht kongruent zu einem kompletten Fehlen der Persönlichkeit,oder zu einer fehlerhaften optischen Erscheinung ( niemand bewertet dies härter, als man selbst ) steht.

Seit dieser Geschichte, in deren Prozess ich mich ja nach wie vor befinde, gehe ich weitaus achtsamer um mit den Befindlichkeiten, Gebrechlichkeiten anderer Menschen um.
Jeder hat seine ganz eigene Wahrnehmung, was schlimm ist. Das erfordert Respekt.
Und es gibt ( leider ) immer viel, viel Schlimmeres…zumindest als einen sich verabschiedeten Schneidezahn…
in diesem Sinne
Mut zur Lücke

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